Herrschaft der Mehrheit bedeutet Krieg
Zyperns Verfassung verlangt guten Willen / Londoner Konferenz berät Reformen
Von Dr. Christian Heinze
(DZ) In London tagt seit Mittwoch unter Vorsitz
des
britischen Außenministers Butler die Zypernkonferenz, an der
neben
den Außenministern Griechenlands und der Türkei die
Vertreter
der griechischen und türkischen Volksgruppen auf Zypern
teilnehmen.
Wir veröffentlichen aus diesem Anlaß einen Artikel von Dr.
jur.
Christian Heinze, der 1962/63 Assistent des Präsidenten des
zyprischen
Verfassungsgerichts, des Heidelberger Juristen Ernst Forsthoff, war.
Als Zypern aus dem britischen Staatsverband
ausschied,
sollte durch die Verfassung vom 16. August 1960 und durch ein System
völkerrechtlicher
Garantien die Kooperation zwischen der griechischen und der
türkischen
Volksgruppe auf der Insel ermöglicht werden. Zypern, das in
seltener
Konzentration eindrucksvolle Spuren fast aller bedeutenden Kulturen des
Westens und des Ostens aus fünf Jahrtausenden trägt, wird
heute
zum Prüfstein dafür, wie weit Verfassungsrecht und
Völkerrecht
geeignet sind, Frieden, Zusammenarbeit, Freiheit und Gerechtigkeit zu
gewährleisten.
Argumente der Griechen
Die griechischen Zyprioten, die vier Fünftel
der
Bevölkerung stellen, streiten mit den türkischen Zyprioten um
ihre Rechte auf der Insel. Die griechischen Zyprioten beanspruchen die
Herrschaft unter Berufung auf ihre Überzahl und den uralten
Einfluß
der griechischen Kultur in Zypern; die türkischen Zyprioten
können
darauf hinweisen, daß Zypern von 1573 bis 1914 Bestandteil des
türkischen
Reichs war.
Alle diese Ansprüche sind natürlich ohne
rechtliche
Bedeutung für die gegenwärtige Verfassungslage. Die Geltung
der
Verfassung von 1960 beruht vielmehr auf ihrer Annahme durch
Repräsentanten
der Zyprioten und auf der verfassunggebenden Gewalt
Großbritanniens
als des Muttergemeinwesens, dem die Insel zuletzt als Kronkolonie
angehörte
und das Zypern unter den Bedingungen dieser Verfassung die
Eigenstaatlichkeit
eingeräumt hat. Dieser Geltungsgrund wird verstärkt durch die
völkerrechtliche Garantie der Verfassung durch Griechenland und
die
Türkei. In Kreisen griechischer Zyprioten wird behauptet, die
Verfassung
sei nicht gültig, weil sie nicht vom Volk beschlossen ist, weil
sie
der griechischen Bevölkerungsmehrheit nicht die Herrschaft
einräumt
und weil die Verfassung juristisch so schlecht gefaßt sei,
daß
man sie gar nicht ausführen kann und daß sie außerdem
die türkischen Zyprioten ungerecht bevorzuge. Die Geltung der
Verfassung
hängt rechtlich nicht von einem Beschluß durch das Volk ab.
Auch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist nicht
vom Volk beschlossen worden. Es ist kein Zweifel möglich,
daß
Erzbischof Makarios als Repräsentant der griechischen und Dr.
Kücük
als Repräsentant der türkischen Volksgruppe 1960 zur
Unterzeichnung
der Verfassung legitimiert waren. Ihre Legitimation beruhte auf
allgemeinen
Wahlen vom Dezember 1959.
Rechtliche Garantien
Die Behauptung, nach demokratischen
Mehrheitsgrundsätzen
müßten die griechischen Zyprioten die Insel beherrschen,
verkennt
den Sinn der Verfassung und der Demokratie und bagatellisiert die
bestehenden
Gegensätze zwischen griechischen und türkischen Zyprioten.
Wie
bedeutend diese Gegensätze sind, geht aus dem Blutvergießen
von Weihnachten 1963 hervor. Das Ziel der Verfassung ist gerade die
Befriedung
dieser Gegensätze sowie Freiheit und Gerechtigkeit für alle
Zyprioten,
aber nicht Herrschaft der einen über die andere Volksgruppe. Reine
Mehrheitsherrschaft setzt grundsätzliche Homogenität des
Herrschaftsverbandes
voraus. Es ist aber gerade die Eigenschaft der politischen Struktur
Zyperns,
daß die Homogenität dort nicht vorhanden ist. Die
Gegensätze
der Volksgruppen können deshalb nur durch rechtliche Garantien
überwunden
werden. Die in Zypern verbreitete Verfassungsschelte ist in ihrer
Übertreibung
sicher unberechtigt. Die zyprische Verfassung von 1960 ist dank der
Mitwirkung
vorzüglicher griechischer und türkischer Verfassungsjuristen
und der Berücksichtigung der Verfassungsvorbilder anderer
Länder
bei ihrer Formulierung im ganzen ein gerechtes, klares und keineswegs
unerträglich
kompliziertes Gesetz. Das Gerede von ihrer Unausführbarkeit ist
juristisch
unhaltbar und um so weniger überzeugend, als die Urheber dieses
Geredes
nie Zweifel daran gelassen haben, daß sie die Verfassung
überhaupt
nicht ausführen wollen. Der erste Präsident des zyprischen
Verfassungsgerichts,
der Heidelberger Professor für öffentliches Recht Ernst
Forsthoff,
hat die Unausführbarkeit der Verfassung immer bestritten und
darauf
hingewiesen, daß ihr Funktionieren eine Frage des guten Willens
ist.
Hauptgegenstand der
Unausführbarkeitskbehauptung
sind zwei Verfassungsbestimmungen. Nach Artikel 78 II können
gewisse
wichtige Gesetze (zum Beispiel Steuergesetze) nur mit den Stimmen der
Mehrheit
aller griechischen und der Mehrheit aller türkischen Abgeordneten
des Inselparlaments erlassen werden. Wenn beide Volksgruppen den
Ausgleich
wollen, so muß ihnen zugemutet werden, in diesem Verfahren einen
Kompromiß zu finden. Gelingt das nicht, so liegt das an den
Abgeordneten,
nicht an der Verfassung. Nach Artikel 173 soll in fünf
Städten
der Insel eine „getrennte Gemeindeverwaltung“ für die beiden
Volksgruppen
eingerichtet werden. Unmöglich, sagen die einen, kann man
gewachsene
Städte räumlich teilen. Nur geteilte Städte, sagen die
anderen,
genügen der Verfassung. Solche Starrheit zeigt einen Mangel an
juristischer
Findigkeit oder an Zusammenarbeit und Kompromißbereitschaft, denn
der Wortlaut der Verfassung zwingt nicht zu einer territorialen
Aufteilung
aller Verwaltungsaufgaben auf zwei völlig getrennte Gemeinden
innerhalb
der fünf Städte. Ein zweigleisiges Verfahren für den
Erlaß
kommunaler Satzungen, ähnlich wie es für Steuergesetze
vorgesehen
ist, eine zweigliedrige Organisation und eine personell determinierte
Teilung
gewisser Verwaltungszuständigkeiten würden vielmehr die
Voraussetzungen
der Verfassung erfüllen, und sogar an der Zulässigkeit der
Einrichtung
gewisser voll vereinheitlichter Verwaltungszweige in den Städten
besteht
kein Zweifel.
Gegen die Gerechtigkeit und
Zweckmäßigkeit
einzelner Bestimmungen der zyprischen Verfassung kann man sicher
gewichtige
Gründe anführen. Gerade der Haupteinwand, der sich gegen das
Erfordernis separater Mehrheiten für gewisse Gesetze richtet,
dürfte
allerdings nicht begründet sein. Es ist kaum zu erkennen, wie die
Majorisierung der türkischen Zyprioten ohne Vetorechte, die auch
bei
der Gesetzgebung wirksam sein müssen, rechtlich ausgeschlossen
werden
könnte. Die verbleibenden berechtigten Zweifel an der Richtigkeit
einzelner Verfassungsnormen, etwa der Vorschrift, die den
türkischen
Zyprioten einen größeren Anteil an den öffentlichen
Ämtern
zuweist, als ihrem Bevölkerungsanteil entspricht, können die
Verbindlichkeit der Verfassung schon deshalb nicht
beeinträchtigen,
weil beide Volksgruppen ihr zugestimmt haben.
Mit rechtlichen Argumenten kann also die
Mißachtung
der Verfassung nicht begründet werden, die zur erklärten
Politik
des griechischen Teils der zyprischen Regierung wurde, als das
Verfassungsgericht
der Republik Zypern im April 1963 unter Vorsitz von Professor Forsthoff
mehreren Klagen der türkischen Zyprioten im wesentlichen stattgab,
die sich gegen Maßnahmen zur Errichtung einer zentralisierten,
also
verfassungswidrigen Gemeindeverwaltung richteten. Wer die Verfassung
für
unbeachtlich hält, weil die erforderliche Zusammenarbeit nicht
zustande
gekommen ist, könnte mit ähnlichem Recht behaupten,
Strafgesetze
seien unbeachtlich, weil sie doch übertreten werden.
Wie aber kann die zyprische Zukunft bewältigt
werden?
Gewiß könnte man die Verfassung ändern, wenn alle
Beteiligten
zustimmen. Man könnte den Anteil der türkischen Zyprioten am
öffentlichen Dienst auf ein Maß zurückführen, das
ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Man könnte auch die
Vetorechte
der beiden Volksgruppen an engere Voraussetzungen knüpfen.
Verfassungsänderung
kommt aber auch in einer anderen Hinsicht in Frage: Mit Bezug auf die
Gemeindeverwaltung,
die einen Hauptpunkt im Streit zwischen den griechischen und
türkischen
Zyprioten darstellt, enthält die Verfassung nur den
programmatischen
Satz, daß getrennte Gemeindeverwaltungen eingerichtet werden
sollen.
Damit hat der Verfassunggeber die Lösung einer heiklen Aufgabe
aufgeschoben
und auf das Parlament abgewälzt. Das Parlament konnte sich nicht
einigen.
Will man die Verfassung in diesem Punkt verbessern, so liegt es nahe,
nun
in der Verfassung selbst "getrennte Gemeindeverwaltungen" einzusetzen.
Ebenso
nahe liegt es, Verfassungsänderungen vorzunehmen, die eine
Wiederholung
der Gewalttätigkeiten von Weihnachten 1963 verhindern helfen.
Durch
eine Beseitigung der wichtigsten griechischen und türkischen
Rechte
könnte dagegen eine sichere Grundlage für eine friedliche
Zukunft
kaum geschaffen werden. Denn wie könnte das Mißtrauen
zwischen
griechischen und türkischen Zyprioten schwinden, wenn die
Ereignisse
lehren würden, daß man eine Verfassungsänderung
erzwingen
kann, indem man die Verfassung für undurchführbar
erklärt,
sich über sie hinwegsetzt und es darüber zum Bürgerkrieg
kommen läßt?
Strafvorschriften sind nötig
Bei den Londoner Verhandlungen über die Zukunft
Zyperns
könnte erwogen werden, die nächstliegenden Ursachen des
Konflikts
zu beseitigen, ohne die Grundstruktur der Verfassung anzutasten. Das
wäre
möglich, wenn sich die beiden Volksgruppen in London über
eine
Steuergesetzgebung und über eine Gesetzgebung mit Bezug auf die
Gemeindeverwaltung
und die Besetzung der öffentlichen Ämter einigen
könnten.
Eine solche Einigung ließe alles Gute hoffen. Doch sollte man
noch
folgendes bedenken: Kaum eine Verfassung kann darauf verzichten, gegen
verfassungsfeindliche Umtriebe durch Strafvorschriften geschützt
zu
werden. Das gilt besonders für die zyprische Verfassung, die so
starken
Angriffen ausgesetzt ist. Solche Normen fehlen in Zypern und sollten
deshalb
geschaffen werden.
Die Zyprioten sollten ferner prüfen, welche
ihrer
Parlaments-, Regierungs- und Verwaltungsangehörigen etwa durch
einen
Mangel an Bereitschaft oder Fähigkeit zu Kooperation und Aufbau an
dem bisherigen Mißerfolg der gemeinschaftlichen Selbst-regierung
mit schuld sind. Es liegt zum Beispiel nahe, daß aktive
Mitglieder
von Partisanenorganisationen geeignet sind, eine Regierung und
Verwaltung
zu zerstören, aber nicht ein so empfindliches Staatsgebäude
zu
errichten, wie es Zypern benötigt.