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Herrschaft der Mehrheit bedeutet Krieg
Zyperns Verfassung verlangt guten Willen / Londoner Konferenz berät Reformen

Von Dr. Christian Heinze



Ursprüngliche Veröffentlichung: Deutsche Zeitung Nr. 15 vom 18./19.1.1964


(DZ) In London tagt seit Mittwoch unter Vorsitz des britischen Außenministers Butler die Zypernkonferenz, an der neben den Außenministern Griechenlands und der Türkei die Vertreter der griechischen und türkischen Volksgruppen auf Zypern teilnehmen. Wir veröffentlichen aus diesem Anlaß einen Artikel von Dr. jur. Christian Heinze, der 1962/63 Assistent des Präsidenten des zyprischen Verfassungsgerichts, des Heidelberger Juristen Ernst Forsthoff, war.


Als Zypern aus dem britischen Staatsverband ausschied, sollte durch die Verfassung vom 16. August 1960 und durch ein System völkerrechtlicher Garantien die Kooperation zwischen der griechischen und der türkischen Volksgruppe auf der Insel ermöglicht werden. Zypern, das in seltener Konzentration eindrucksvolle Spuren fast aller bedeutenden Kulturen des Westens und des Ostens aus fünf Jahrtausenden trägt, wird heute zum Prüfstein dafür, wie weit Verfassungsrecht und Völkerrecht geeignet sind, Frieden, Zusammenarbeit, Freiheit und Gerechtigkeit zu gewährleisten.

Argumente der Griechen

Die griechischen Zyprioten, die vier Fünftel der Bevölkerung stellen, streiten mit den türkischen Zyprioten um ihre Rechte auf der Insel. Die griechischen Zyprioten beanspruchen die Herrschaft unter Berufung auf ihre Überzahl und den uralten Einfluß der griechischen Kultur in Zypern; die türkischen Zyprioten können darauf hinweisen, daß Zypern von 1573 bis 1914 Bestandteil des türkischen Reichs war.

Alle diese Ansprüche sind natürlich ohne rechtliche Bedeutung für die gegenwärtige Verfassungslage. Die Geltung der Verfassung von 1960 beruht vielmehr auf ihrer Annahme durch Repräsentanten der Zyprioten und auf der verfassunggebenden Gewalt Großbritanniens als des Muttergemeinwesens, dem die Insel zuletzt als Kronkolonie angehörte und das Zypern unter den Bedingungen dieser Verfassung die Eigenstaatlichkeit eingeräumt hat. Dieser Geltungsgrund wird verstärkt durch die völkerrechtliche Garantie der Verfassung durch Griechenland und die Türkei. In Kreisen griechischer Zyprioten wird behauptet, die Verfassung sei nicht gültig, weil sie nicht vom Volk beschlossen ist, weil sie der griechischen Bevölkerungsmehrheit nicht die Herrschaft einräumt und weil die Verfassung juristisch so schlecht gefaßt sei, daß man sie gar nicht ausführen kann und daß sie außerdem die türkischen Zyprioten ungerecht bevorzuge. Die Geltung der Verfassung hängt rechtlich nicht von einem Beschluß durch das Volk ab. Auch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist nicht vom Volk beschlossen worden. Es ist kein Zweifel möglich, daß Erzbischof Makarios als Repräsentant der griechischen und Dr. Kücük als Repräsentant der türkischen Volksgruppe 1960 zur Unterzeichnung der Verfassung legitimiert waren. Ihre Legitimation beruhte auf allgemeinen Wahlen vom Dezember 1959.

Rechtliche Garantien

Die Behauptung, nach demokratischen Mehrheitsgrundsätzen müßten die griechischen Zyprioten die Insel beherrschen, verkennt den Sinn der Verfassung und der Demokratie und bagatellisiert die bestehenden Gegensätze zwischen griechischen und türkischen Zyprioten. Wie bedeutend diese Gegensätze sind, geht aus dem Blutvergießen von Weihnachten 1963 hervor. Das Ziel der Verfassung ist gerade die Befriedung dieser Gegensätze sowie Freiheit und Gerechtigkeit für alle Zyprioten, aber nicht Herrschaft der einen über die andere Volksgruppe. Reine Mehrheitsherrschaft setzt grundsätzliche Homogenität des Herrschaftsverbandes voraus. Es ist aber gerade die Eigenschaft der politischen Struktur Zyperns, daß die Homogenität dort nicht vorhanden ist. Die Gegensätze der Volksgruppen können deshalb nur durch rechtliche Garantien überwunden werden. Die in Zypern verbreitete Verfassungsschelte ist in ihrer Übertreibung sicher unberechtigt. Die zyprische Verfassung von 1960 ist dank der Mitwirkung vorzüglicher griechischer und türkischer Verfassungsjuristen und der Berücksichtigung der Verfassungsvorbilder anderer Länder bei ihrer Formulierung im ganzen ein gerechtes, klares und keineswegs unerträglich kompliziertes Gesetz. Das Gerede von ihrer Unausführbarkeit ist juristisch unhaltbar und um so weniger überzeugend, als die Urheber dieses Geredes nie Zweifel daran gelassen haben, daß sie die Verfassung überhaupt nicht ausführen wollen. Der erste Präsident des zyprischen Verfassungsgerichts, der Heidelberger Professor für öffentliches Recht Ernst Forsthoff, hat die Unausführbarkeit der Verfassung immer bestritten und darauf hingewiesen, daß ihr Funktionieren eine Frage des guten Willens ist.

Hauptgegenstand der Unausführbarkeitskbehauptung sind zwei Verfassungsbestimmungen. Nach Artikel 78 II können gewisse wichtige Gesetze (zum Beispiel Steuergesetze) nur mit den Stimmen der Mehrheit aller griechischen und der Mehrheit aller türkischen Abgeordneten des Inselparlaments erlassen werden. Wenn beide Volksgruppen den Ausgleich wollen, so muß ihnen zugemutet werden, in diesem Verfahren einen Kompromiß zu finden. Gelingt das nicht, so liegt das an den Abgeordneten, nicht an der Verfassung. Nach Artikel 173 soll in fünf Städten der Insel eine „getrennte Gemeindeverwaltung“ für die beiden Volksgruppen eingerichtet werden. Unmöglich, sagen die einen, kann man gewachsene Städte räumlich teilen. Nur geteilte Städte, sagen die anderen, genügen der Verfassung. Solche Starrheit zeigt einen Mangel an juristischer Findigkeit oder an Zusammenarbeit und Kompromißbereitschaft, denn der Wortlaut der Verfassung zwingt nicht zu einer territorialen Aufteilung aller Verwaltungsaufgaben auf zwei völlig getrennte Gemeinden innerhalb der fünf Städte. Ein zweigleisiges Verfahren für den Erlaß kommunaler Satzungen, ähnlich wie es für Steuergesetze vorgesehen ist, eine zweigliedrige Organisation und eine personell determinierte Teilung gewisser Verwaltungszuständigkeiten würden vielmehr die Voraussetzungen der Verfassung erfüllen, und sogar an der Zulässigkeit der Einrichtung gewisser voll vereinheitlichter Verwaltungszweige in den Städten besteht kein Zweifel.

Gegen die Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit einzelner Bestimmungen der zyprischen Verfassung kann man sicher gewichtige Gründe anführen. Gerade der Haupteinwand, der sich gegen das Erfordernis separater Mehrheiten für gewisse Gesetze richtet, dürfte allerdings nicht begründet sein. Es ist kaum zu erkennen, wie die Majorisierung der türkischen Zyprioten ohne Vetorechte, die auch bei der Gesetzgebung wirksam sein müssen, rechtlich ausgeschlossen werden könnte. Die verbleibenden berechtigten Zweifel an der Richtigkeit einzelner Verfassungsnormen, etwa der Vorschrift, die den türkischen Zyprioten einen größeren Anteil an den öffentlichen Ämtern zuweist, als ihrem Bevölkerungsanteil entspricht, können die Verbindlichkeit der Verfassung schon deshalb nicht beeinträchtigen, weil beide Volksgruppen ihr zugestimmt haben.

Mit rechtlichen Argumenten kann also die Mißachtung der Verfassung nicht begründet werden, die zur erklärten Politik des griechischen Teils der zyprischen Regierung wurde, als das Verfassungsgericht der Republik Zypern im April 1963 unter Vorsitz von Professor Forsthoff mehreren Klagen der türkischen Zyprioten im wesentlichen stattgab, die sich gegen Maßnahmen zur Errichtung einer zentralisierten, also verfassungswidrigen Gemeindeverwaltung richteten. Wer die Verfassung für unbeachtlich hält, weil die erforderliche Zusammenarbeit nicht zustande gekommen ist, könnte mit ähnlichem Recht behaupten, Strafgesetze seien unbeachtlich, weil sie doch übertreten werden.

Wie aber kann die zyprische Zukunft bewältigt werden? Gewiß könnte man die Verfassung ändern, wenn alle Beteiligten zustimmen. Man könnte den Anteil der türkischen Zyprioten am öffentlichen Dienst auf ein Maß zurückführen, das ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Man könnte auch die Vetorechte der beiden Volksgruppen an engere Voraussetzungen knüpfen. Verfassungsänderung kommt aber auch in einer anderen Hinsicht in Frage: Mit Bezug auf die Gemeindeverwaltung, die einen Hauptpunkt im Streit zwischen den griechischen und türkischen Zyprioten darstellt, enthält die Verfassung nur den programmatischen Satz, daß getrennte Gemeindeverwaltungen eingerichtet werden sollen. Damit hat der Verfassunggeber die Lösung einer heiklen Aufgabe aufgeschoben und auf das Parlament abgewälzt. Das Parlament konnte sich nicht einigen. Will man die Verfassung in diesem Punkt verbessern, so liegt es nahe, nun in der Verfassung selbst "getrennte Gemeindeverwaltungen" einzusetzen. Ebenso nahe liegt es, Verfassungsänderungen vorzunehmen, die eine Wiederholung der Gewalttätigkeiten von Weihnachten 1963 verhindern helfen. Durch eine Beseitigung der wichtigsten griechischen und türkischen Rechte könnte dagegen eine sichere Grundlage für eine friedliche Zukunft kaum geschaffen werden. Denn wie könnte das Mißtrauen zwischen griechischen und türkischen Zyprioten schwinden, wenn die Ereignisse lehren würden, daß man eine Verfassungsänderung erzwingen kann, indem man die Verfassung für undurchführbar erklärt, sich über sie hinwegsetzt und es darüber zum Bürgerkrieg kommen läßt?

Strafvorschriften sind nötig

Bei den Londoner Verhandlungen über die Zukunft Zyperns könnte erwogen werden, die nächstliegenden Ursachen des Konflikts zu beseitigen, ohne die Grundstruktur der Verfassung anzutasten. Das wäre möglich, wenn sich die beiden Volksgruppen in London über eine Steuergesetzgebung und über eine Gesetzgebung mit Bezug auf die Gemeindeverwaltung und die Besetzung der öffentlichen Ämter einigen könnten. Eine solche Einigung ließe alles Gute hoffen. Doch sollte man noch folgendes bedenken: Kaum eine Verfassung kann darauf verzichten, gegen verfassungsfeindliche Umtriebe durch Strafvorschriften geschützt zu werden. Das gilt besonders für die zyprische Verfassung, die so starken Angriffen ausgesetzt ist. Solche Normen fehlen in Zypern und sollten deshalb geschaffen werden.

Die Zyprioten sollten ferner prüfen, welche ihrer Parlaments-, Regierungs- und Verwaltungsangehörigen etwa durch einen Mangel an Bereitschaft oder Fähigkeit zu Kooperation und Aufbau an dem bisherigen Mißerfolg der gemeinschaftlichen Selbst-regierung mit schuld sind. Es liegt zum Beispiel nahe, daß aktive Mitglieder von Partisanenorganisationen geeignet sind, eine Regierung und Verwaltung zu zerstören, aber nicht ein so empfindliches Staatsgebäude zu errichten, wie es Zypern benötigt.